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26.12.2011
Die Ärztin Dörte Siedentopf organisiert seit 20 Jahren
Erholungsaufenthalte für Tschernobyl-Kinder. Sie ist fassungslos über
den Umgang mit Fukushima.
Dr. med. Dörte Siedentopf, geboren
1942 in Oldenburg, daselbst Schulbesuch und Abitur, ab 1961 Studium der
Humanmedizin in Würzburg, Berlin, Göttingen. 1966 Examen, Promotion
1968. 1967 Heirat, zwei Kinder, ab 1970 dann im hessischen Dietzenbach
tätig als niedergelassene Ärztin für Allgemeinmedizin und Psychotherapie
in Gemeinschaftspraxis. Seit 2003 im Ruhestand.
Sie ist (seit der Gründung 1981) Mitglied im
IPPNW (Internationale Ärzte für die Verhütung des Atomkrieges, Ärzte in
sozialer Verantwortung). Sie initiierte die Verlegung von
"Stolpersteinen" in Dietzenbach und gründete Anfang der 90er Jahre den
"Freundeskreis Kostjukovitschi e. V. Dietzenbach, der u. a. zweimal
jährlich Hilfstransporte nach Weißrussland schickt, mit medizinischem
Gerät, Kleidung, Fahrrädern, Nähmaschinen, Computern usw.
Seit 20 Jahren werden für
Tschernobyl-Kinder Erholungsaufenthalte in Deutschland organisiert.
Gastfreundliche Dietzenbacher Familien nehmen jeden Sommer weißrussische
Kinder auf. Der Freundeskreis hat inzwischen zahlreiche Mitglieder und
viele Freundschaften in Kostjukovitschi geschlossen. Eine Reihe von
tatkräftigen Helferinnen und Helfern des Freundeskreises kümmert sich um
alles, auch um das Einsammeln von Geld- und Sachspenden. Seit 2009, zum
23. Jahrestag von Tschernobyl, besteht eine Städtepartnerschaft. Frau
Dr. Siedentopf ist verheiratet mit einem Mediziner, auch beide Kinder
haben Medizin studiert. Ihr Vater war Landarzt, ihre Mutter Hausfrau und
Lehrerin.
Frau Dr. Siedentopf empfängt uns in ihrer
kleinen Berliner Dachwohnung Anfang Dezember in Pankow am Bürgerpark.
Bei Tee und Keksen erzählt sie uns von ihren Hilfsaktivitäten und
Erfahrungen.
"Das Schlimmste ist, dass die
Verantwortlichen nichts gelernt haben aus Tschernobyl. Ich bin
fassungslos über den Umgang mit der Reaktorkatastrophe in Fukushima, die
ja noch umfangreicher ist als die von Tschernobyl. Darüber, dass die
Regierung die Evakuierungszone nicht entsprechend ausgeweitet und Frauen
und Kinder nicht sofort in den Süden des Landes in Sicherheit gebracht
hat, kann man nur hilflose Wut empfinden. Stattdessen wird die
Bevölkerung systematisch belogen, sie wird gar nicht oder falsch
informiert über die wirklichen Gefahren. Das ist vollkommen
unverantwortlich. Was da jetzt auf die Japaner zukommt, an Erkrankungen
und Problemen, das ist unvorstellbar. Und das nehmen Politik und
Atomwirtschaft wirklich alles in Kauf! Weltweit!
Am Beispiel von Tschernobyl kann man sich
das Ausmaß in etwa vor Augen führen. Viele Leute denken, das ist lange
her, Tschernobyl ist eine vergangene Katastrophe, über die man auf
Wikipedia nachlesen kann. Aber die Menschen in den radioaktiv
verseuchten Gebieten leben von 1986 bis heute mit Tschernobyl. Die
Folgen lassen nicht nach. Anders als bei Naturkatastrophen, nehmen sie
mit der Zeit zu statt ab - und das für die nächsten 300 Jahre,
mindestens. Ich gehe nachher noch genauer darauf ein." (Siehe dazu auch
den Bericht der "Gesellschaft für Strahlenschutz " u. IPPNW:
"Gesundheitliche Folgen von Tschernobyl, 20 Jahre nach der Reaktor-
Katastrophe", Anm. G.G.)
Menschen lebten Jahrzehnte im verstrahlten Gebiet
"Vorher will ich noch kurz etwas zu den Ursachen sagen und weshalb
wir uns zu einer Hilfsaktion in Weißrussland entschieden haben. Es ist
so, dass der größte Teil des verstrahlten Gebietes in Weißrussland
liegt. 70 Prozent der Radioaktivität ging nieder auf die damalige
Sowjetrepublik Weißrussland. Ein Viertel der Landesfläche wurde
verstrahlt. Etwa 15 Kilometer vom Reaktor entfernt ist die weißrussische
Grenze.
Und als der Wind die Wolke dann Richtung
Moskau bewegte, da hat man zusätzlich noch schnell künstlich abregnen
lassen, mit Silberjodit. Natürlich ohne die Bevölkerung zu informieren.
Anfang Mai, bei wunderschönem Wetter, kam plötzlich ein klebriger,
gelber Regen runter, erzählen die Leute. Man hat die Bevölkerung
jahrelang im Unklaren gelassen, es gab nur Umsiedelungen, Anordnungen,
Beschwichtigungen. Dosimeter waren strengstens verboten.
Besonders betroffen waren die Gebiete Gomel
und Mogiljow. Im Mogiljower Gebiet liegt auch das Städtchen
Kostjukovitschi, in das ich seit 20 Jahren fahre. Diese beiden Gebiete
wurden großflächig verstrahlt und etwa eine Million Menschen mussten
umgesiedelt werden, dazu musste man erst mal in den Großstädten und
Bezirken Häuser bauen. Um Minsk herum ist eine riesige Stadt gebaut
worden. Viele Leute lebten zehn Jahre auf den verstrahlten Gebieten, bis
sie neue Wohnungen beziehen konnten, und viele leben immer noch auf
kontaminiertem Boden und treiben Landwirtschaft.
Für alles muss ja, seit dem Untergang der
Sowjetunion, der weißrussische Staat aufkommen. Allein in ,unserem'
Kreis sind 8.000 Menschen umgesiedelt worden. 26 Dörfer wurden
abgetragen und eingegraben. Viele Dörfer in den verstrahlten Gebieten
stehen leer, in einige sind alte Leute zurückgekehrt oder auch
Kriegsveteranen aus Tschetschenien oder Afghanistan, die nicht in der
Stadt leben können.
Vergleichbares gibt es in der Sperrzone um
Tschernobyl herum. Menschen leben in den alten Dörfern, ohne Strom, ohne
Leitungswasser und versorgen sich selbst, so gut sie können. Dort ist
überall sandiger Boden, wie in Berlin - die Birken gehen von hier bis
nach Moskau. Das Grundwasser ist sehr niedrig, d. h., wenn die
Radioaktivität 2 Zentimeter pro Jahr in den sandigen Boden sinkt, dann
ist die also jetzt bei 50 Zentimeter angekommen und nicht mehr weit
entfernt vom Grundwasser.
Die Hälfte des Haushalts
Es hat also
gewaltige Umwälzungen gegeben dort. Die Kosten für Weißrussland, auch
die gesundheitlichen, waren immens. Die ganzen Erdarbeiten, die in den
zehn, fünfzehn Jahren nach Tschernobyl gemacht worden sind, die
Dekontaminierung der Schulhöfe, die ganzen Abtragungen - was weiß ich,
wohin sie das gebracht haben. Also das alles hat der Staat Belarus
bezahlt. Ich glaube, die Hälfte seines Haushalts ist in die Beseitigung
von Tschernobyl-Folgen geflossen.
Und eines Tages konnte und wollte man die
vergleichsweise großzügigen Regelungen aus sowjetischen Zeiten nicht
weiterhin erfüllen. Deshalb hat Präsident Lukaschenko Tschernobyl quasi
als überwunden erklärt, als museales Ereignis. Es gehen von den ehemals
verstrahlten weißrussischen Gebieten keine Gefahren mehr aus, wurde
offiziell erklärt.
Bis 20 Jahre nach der Katastrophe hatte es
immer noch Vergünstigungen gegeben, es wurde ein sogenanntes Sarggeld
bezahlt, an Leute, die als Liquidatoren ihren Ausweis hatten. Aber auch
Leute, die umgesiedelt wurden, hatten einen Anspruch. Diese Zahlungen
wurden weitgehend eingestellt. Es war nicht viel Geld, aber dazu kam
noch kostenfreie medizinische Versorgung, die jetzt auch abgeschafft
wurde. Und die Anerkennung bestimmter Krankheiten, als Folge von
Tschernobyl, ist auch nicht mehr selbstverständlich.
Fast eine Million ,Aufräumarbeiter' - meist
junge Männer - wurden in Tschernobyl und Umgebung eingesetzt. Ein großer
Teil von ihnen kam aus Weißrussland. Heute sind die meisten
Liquidatoren invalide, haben Lungen- und Schilddrüsenkrebs,
Herz-Kreislauf-Krankheiten, Erkrankungen der Nieren, des
Magen-Darm-Bereichs, Leukämie und auch psychische Erkrankungen. Etwa
100.000 sind bislang gestorben, im Alter zwischen 40 und 50 Jahren.
Viele begingen Selbstmord. Und da wurde einfach gesagt, Tschernobyl ist
vorbei. Es hat Proteste gegeben in Minsk. Und gerade jetzt ist in Kiew
wieder protestiert worden, mit einem Hungerstreik der Liquidatoren,
gegen die krassen Einschnitte, die auch die Ukraine an Renten und
Vergünstigungen vorgenommen hat.
In den Dörfern sind die Kosten niedriger
In Weißrussland war zum Beispiel für Betroffene der Kindergarten
kostenlos, das Schulessen war kostenlos, die Kinder bekamen auch
besondere Vitamine, und Kuren - die bekommen sie zwar jetzt auch noch,
einmal pro Jahr, aber ansonsten wurde alles zurückgefahren. Auch das
vitaminreiche Essen für die Schulen und Kindergärten. Also der Ausweis,
den sie alle haben, den haben sie uns gezeigt, aber der gilt eigentlich
nicht mehr. Alle ehemaligen Ansprüche sind gestrichen.
Wenn man ohnehin nur wenig hat und auch noch
krank ist, dann wirken sich die Streichungen und Kürzungen sehr
empfindlich aus. Jetzt gerade haben sie wieder - wie jedes Jahr - die
kommunalen Abgaben erhöht, also Wasser und Wärme. Und die Wärme für die
Stadt, für die großen Häuser und Blocks, die läuft im Winter in
unisolierten Rohren über das Feld, da geht schon jede Menge verloren,
was ja auch bezahlt werden muss. Deswegen leben auch viele Leute lieber
in den Dörfern, dort können sie ihre Kosten reduzieren.
Die hohe Staatsverschuldung, die alle
Menschen einschränkt und bedrückt, ist sicher einerseits durch
Tschernobyl bedingt, aber auch durch massive Misswirtschaft. Es gibt
eine Hyperinflation in Belarus, momentan sind das etwa 113 Prozent. Der
Durchschnittsverdienst liegt bei 150 bis300 Euro im Monat. Arbeiten im
Ausland ist nicht erlaubt.
Keinerlei Opposition wird geduldet
Die Grenzen zu den neuen EU-Mitgliedstaaten Polen, Lettland, Litauen
sind dicht für Weißrussen. Aber es ist nicht nur das Geld, der drohende
Staatsbankrott, es gibt auch eine ungeheure Unfähigkeit, wirklich in 20
Jahren irgendwas an Staat überhaupt aufzubauen, an Demokratie. Keinerlei
Opposition wird geduldet. Dennoch kommt es zu Protestdemonstrationen.
So auch gegen den ungeheuerlichen Beschluss, ein AKW zu bauen.
Weißrussland hat kein AKW. Aber unmittelbar
nach Fukushima hat Lukaschenko gesagt, er will jetzt eins bauen, mit
russischer Hilfe, in Ostrowez, 20 km von der litauischen Grenze
entfernt. Der Vertrag wurde inzwischen von Lukaschenko und Putin
besiegelt. Es wird mehr als 5 Milliarden Euro kosten, wurde gesagt, das
AKW soll modern und vollkommen sicher sein, saubere und preiswerte
Energie liefern und Arbeitsplätze schaffen, all diese
Propagandageschichten. Da ist die Atomindustrie in Ost und West gleich.
Also das sind so andeutungsweise die äußeren
Bedingungen. Vieles kenne ich aus eigener Anschauung. Angefangen hat
das so: Wir haben damals, 1990 - nach Glasnost und Perestroika - an
einer Gruppenreise nach Minsk für Versöhnung und Völkerverständigung
teilgenommen. Veranstalter war ein kirchlicher ,Arbeitskreis Frieden' in
Bonn/Bad Godesberg."
(Die Republik Weißrussland hatte am
meisten unter dem Überfall der deutschen Wehrmacht auf die Sowjetunion
zu leiden, unter den Gräueltaten von Militär und Sondereinsatzgruppen.
Nach drei Jahren Besetzung war das Land verwüstet und ausgeraubt, es
verlor viele Einwohner, und fast die gesamte jüdische Bevölkerung war
ermordet. In der Nähe von Minsk errichteten die Deutschen das größte
Vernichtungslager auf sowjetischem Boden. Anm. G.G.)
"Das hat mich auch deswegen interessiert,
weil mein Vater lange Jahre… es gibt Briefe aus Brest. Festung Brest. Es
gibt Bilder…, auch im Lazarett. Das war eben, wie heißt das?
Heeresgruppe Mitte, eines der Lazarette, die sie da hatten. Briefe und
Bilder… und wie er da so… Irgendwie dachte ich immer, ich muss das mal
sehen. Wir haben natürlich nie mit ihm über all diese Dinge geredet. Und
1963 ist er dann gestorben, an einer bösartigen Erkrankung auch. Ich
weiß nur noch, meine Mutter kolportierte, dass er mal gesagt hat: ,Wenn
wir den Krieg verlieren, dann gnade uns Gott!'"
Die Kinder mit den Narben
Frau Dr.
Siedentopf hat sich wieder gefangen und erzählt weiter: "Wir haben alles
angeschaut, auch das ehemalige Getto. Und eher zufällig haben wir fünf
Ärzte aus der Gruppe dann auch eine Klinik besucht, außerhalb von Minsk.
Da erholten sich Kinder, die behandelt wurden nach Schilddrüsenkrebs.
Das waren die ersten Opfer, die wir sahen, in einem ehemaligen
Erholungsheim für Funktionäre. Alle Kinder waren blass und mit einer
roten Narbe am Hals.
Da ist uns das erst klar geworden, dass
Tschernobyl nicht vorbei ist. Eine Ärztin sagte uns dann, dass ihnen
eigentlich nicht so sehr Versöhnung und Völkerverständigung helfen
könnten, sondern dass sie konkrete medizinische Hilfe brauchen. Wenn wir
helfen möchten, sollen wir in die Provinz gehen, die großen Kliniken in
Minsk seien schon relativ gut versorgt. Da war die Frankfurter
Uniklinik engagiert. Und wir bekamen eine Anschrift und sagten, wir
überlegen das mal. Und bald darauf sind wir dann zu zweit nach
Kostjukovitschi gefahren. Das liegt etwa 180 Kilometer Luftlinie von
Tschernobyl entfernt, im Osten Weißrusslands.
Meine Stadt Dietzenbach hat 35.000
Einwohner, etwa so viele wie Kostjukovitschi. Wir besuchten dort den
Chefarzt in einem alten Krankenhaus von 1905, es war unglaublich,
Baracken, so im Gelände verteilt, ohne irgendwas. Er zeigte uns alles,
und wir lernten dann auch die hochschwangere Apothekerin Larissa kennen,
die bis heute unsere zuverlässige Verbindungsfrau und auch Freundin
ist. Sie zeigte uns ihre Apotheke, die ebenfalls sehr schlecht
ausgerüstet war. Es fehlte an Verbandsmitteln, an Verbrauchsmaterial.
Für Kinder, hieß es, gibt es keine Zäpfchen. Sie konnte auch keine
selbst herstellen, denn es fehlte die Rohsubstanz Kakaobutter.
Und warum macht ihr keine Augen- und
Ohrentropfen? Es gibt keine Pipettenfläschchen, erklärte sie. Und da
begann dann unser Projekt erst mal mit der medizinischen Hilfe. Es ging
um die Folgekrankheiten von Tschernobyl, darum, da irgendwie behilflich
zu sein. Und mit diesen Menschen, dem Chefarzt, der Apothekerin und noch
einer Kinderärztin, haben wir dann eigentlich zehn Jahre lang ein sehr
intensives medizinisches Projekt gehabt.
Wir haben für das Apothekenprojekt geschickt
- oder gebracht -, was an Substanzen benötigt wurde. Sie haben es dort
selbst verarbeitet. Die Kinderzäpfchen wurden dann kostenlos oder ganz
billig abgegeben. Eine wichtige Hilfe waren auch gynäkologische
Präparate, Frauenzäpfchen. Nach zehn Jahren war das dann nicht mehr
möglich, weil die Medikamentenzuteilung zentralisiert wurde, die
Apotheken waren nur noch Verkaufsstellen und durften nichts mehr selbst
herstellen.
Zu dieser Anfangszeit hatte das auch schon
angefangen, dass Kinder eingeladen wurden nach Deutschland. 1990 waren
die ersten Kinder in der DDR eingeladen zu Erholungsaufenthalten. Die
konnten dort ja auch Russisch und hatten schon Kontakte. 1991 fing es
dann auch bei uns an. Unsere Stadt hat gesagt, sie wird die Finanzierung
von 50 Kindern aus der Tschernobyl-Gegend übernehmen für einen Urlaub
im Taunus. Aber ich sagte, sie sollen doch Kinder aus Kostjukovitschi
nehmen und auch unsere Familien in Dietzenbach sollen sich mit dem Thema
beschäftigen.
Ich war etwa 40-mal in Weißrussland
Und so wurde es dann gemacht, wobei zwei, drei Jahre es noch die
Stadt finanzierte und danach unser ,Freundeskreis Kostjukovitschi e.
V.', der sich dann auch juristisch gegründet hat, damit wir die
Spendengelder richtig abrechnen konnten. Die Familien und die Kinder
haben sich trotz Sprachschwierigkeiten und Fremdseins sehr schnell
miteinander angefreundet. Viele dieser Freundschaften haben sich
erhalten über die Jahre. Bis heute waren mehr als 900 Kinder und 250
Erwachsene in Dietzenbach unsere Gäste. Viele freundschaftliche
Gegenbesuche haben stattgefunden. Und ich bin seitdem etwa 40-mal in
Weißrussland gewesen.
Vom ersten Jahr an eigentlich haben wir
immer auch - neben der medizinischen Hilfe - fehlende Gegenstände für
das Alltagsleben in dieser Mangelgesellschaft gesammelt. Erst in meiner
Praxis, später bekamen wir dann eigene Räume. Es wurden Pakete
geschickt, es fahren zweimal jährlich Transporte mit Lastwagen, wir
sammelten alles, Kleidung, Fahrräder, Nähmaschinen, Spielzeug,
Musikinstrumente, Computer, Sportgeräte usw. Wir hörten uns auch dort
um, was so gebraucht wird, eine Kunstschule wünschte sich einen
Brennofen.
Ein Altenheim auf dem Dorf brauchte alles:
Betten, Matratzen, Bettzeug, Kleidung, Teppiche, Möbel, Geschirr usw. Da
waren wir sehr engagiert, es gab auch eine Einrichtung für das Kabinett
des Arztes, der da ab und zu hinkommt, Liege, Apparate. Oder auch für
Kinderärzte haben wir Stethoskope und Ohrspiegel geschickt, an denen es
fehlte, oder Spekula, mit denen man in die Nase guckt, solche Dinge. Ach
ja, auch kleine Spiegel, mit denen man in den Kehlkopf guckt, schickten
wir. Die sind aber immer nach einem Jahr schon blind geworden, und wir
haben gefragt, was sie denn damit machen. Die wurden sterilisiert in der
allgemeinen Sterilisation, die die Spiegel kaputt machte. Dann haben
wir einen eigenen kleinen Sterilisator besorgt, und ab da lief es dann.
Ein anderes Projekt sind Kindergärten. Wir
gingen in die Dörfer und haben gesehen, dass sie nichts haben an
pädagogischem Einrichtungsmaterial. Nicht mal Bauklötzchen oder
Puppenwagen. Mit dem nächsten Transport haben wir dann so eine
Grundausstattung geschickt. Und als ich mal wiederkam, im Winter, da
waren nur noch drei Kinder da. Und man erklärte mir, nein, die sind
nicht krank, die Eltern können das nicht bezahlen, wir sind zwar ein
Umsiedlungsdorf, aber die Hilfen wurden gestrichen.
Und im Winter haben die Eltern keine Arbeit
auf der Kolchose, da behalten sie die Kinder zu Hause. So haben wir dann
die Kosten übernommen, und es kamen noch viele andere Kindergärten
dazu. Der kleinste, den wir zurzeit finanzieren, das ist einer mit fünf
Kindern. Sie leben in einem Ort, wo es nichts mehr gibt. Kolchose ist
nicht mehr da, Schule ist weg, nur noch den Kindergarten gibt es. Und
ganz wichtig für Kindergartenkinder ist, es gibt dort mehrere
Mahlzeiten, vitaminreiches, gesundes Essen.
Nun will ich zum Gesundheitszustand kommen,
über den man wohlweislich hier nichts zu hören bekommt. Es ist wichtig,
dass man sich mal klarmacht: Mit dem Abstand zum Ereignis werden die
Folgen für die Menschen und das biologische Leben immer katastrophaler.
Das wollen unsere Regierungen und Medien genauso wenig sehen wie
Lukaschenko, der das Ereignis per Beschluss für MUSEAL erklärt.
Die versteckten Mütter
Nach
Tschernobyl gab es verschiedene katastrophale Wellen. Die erste betraf
einerseits Erwachsene: Liquidatoren, Ärzte, Leute, die in die
verstrahlten Dörfer gingen, und die Bevölkerung dort auch. Da sind viele
recht bald an Krebs gestorben. Und andererseits waren dann gleich die
Kinder betroffen. In dieser Gegen Weißrusslands herrscht Jodmangel - sie
haben ja keine Küste wie die Japaner zum Glück -, und so wurde das
radioaktive Jod massiv aufgenommen von der kindlichen Schilddrüse. Es
hat eine kurze Halbwertzeit, also das ist in den ersten zehn Tagen
aufgenommen worden.
Man hat nach Tschernobyl versucht, bei allen
betroffenen Schwangeren abzutreiben. Die Mütter haben sich aber zum
Teil versteckt. Und direkt in dem Jahr danach gab es auch bei diesen
Kindern Schilddrüsenkrebs. Eine Krankheit, die es vor Tschernobyl bei
Kindern gar nicht gab. 4.000 Schilddrüsenkrebsfälle bei Kindern in
Weißrussland sind offiziell bestätigt, die sind operiert, die sind
nachbestrahlt, die müssen lebenslang Hormone nehmen, sonst werden sie zu
Kretins. Aber das müssten sie eigentlich kostenlos kriegen, auch heute,
25 Jahre danach noch, und auch im Falle der später aufgetretenen
Funktionsstörungen.
Wir haben jetzt bei der nächsten Generation
vermehrt auftretende Bluterkrankungen. Wir sagen: TSCHERNOBYL WÜTET IN
DEN GENEN. Und das ist die nächsten 300 Jahre so, weil Strontium und
Caesium eine Halbwertzeit von 30 Jahren haben und das mit 10
multipliziert. Das ist die Faustregel. Sieben bis acht Generationen,
mindestens. Ganz zu schweigen vom Plutonium, das eine Halbwertzeit von
24.000 Jahren hat. Ein Problem ist Diabetes, bei Kindern und
Erwachsenen. Besonders bei Neugeborenen. Das gab es früher auch nicht.
Und es ist so, dass der Staat zwei Sorten
Insulin einkauft, und damit müssen alle klarkommen. Kinder brauchen aber
mindestens noch eine dritte Sorte, und die gibt es nicht, außer es
kümmern sich NGOs darum. Die betreiben auch die fehlende Aufklärung. Ein
anderes Problem sind Augenstörungen bei Kindern, Linsentrübungen. Und
es gab eine Zunahme von Brustkrebs bei Frauen, viele starben innerhalb
von fünf Jahren. Könnte es sein, dass strahleninduzierter Krebs viel
bösartiger ist als ein Alltagskrebs, der sich entwickelt?
Die Zahl der Missbildungen ist gestiegen.
Abtreibung ist ein großes Thema. Schwangerschaftsverhütung kostet Geld,
das kann sich kaum jemand leisten. Das ist ein großes Problem. Und es
gibt andererseits das Problem der unfruchtbaren Paare. In
Kostjukovitschi gibt es 30 Prozent ungewollt sterile Ehen. Eine andere
Geschichte ist die Zunahme bösartiger Tumore, die 6-, 7-, 8-, 9-jährige
Kinder jetzt entwickeln. Hirntumore, Knochentumore.
Ein weiteres großes Problem: In den
verstrahlten Gebieten heilten Wunden nicht mehr, es war dramatisch. Der
Grund ist eine Immunschwäche, weil das radioaktive Strontium sich in den
Knochen einbaut und da bleibt. Und im Knochen wird das Blut gebildet,
es wird ständig bestrahlt! Es ist dann wie bei Aids, dass Impfungen
nicht angehen, weil keine Antikörper mehr gebildet werden. Also auch
Zunahme von Polio, trotz Impfungen. Und es gibt eine Zunahme von
Tuberkulose, weil auch da die Impfungen nicht mehr angehen und die Leute
einfach auch keine gute Ernährung haben. Zudem haben viele ihr Gemüse
mit Regenwasser gegossen und sie sammeln im Herbst Pilze und Beeren, die
immer noch hochkontaminiert sind.
Geschädigte Zellen
Die Vielzahl der
behinderten Kinder, mit geistigen und körperlichen Beschädigungen, ist
eine direkte Folge der Strahlenbelastung. Man muss sich das mal
klarmachen, dass bei den Frauen ja die Eierstöcke bereits in ihrem
Embryonalstadium angelegt sind, eine große Menge von Zellen entwickeln
sich zu Eierfollikeln, 8 Millionen. Und alle Schädigungen der Mutter
kriegen diese Zellen ab. Die Placenta hat eine Schutzschranke, und
ausgerechnet da kann sich die Radioaktivität sozusagen konzentrieren.
Die beschädigten Eier können nicht repariert werden. 1 bis 2 Millionen
sind es bei der Geburt. In der Pubertät noch etwa 400.000. Und die
können dann bereits im Mutterleib beschädigt worden sein mit den
entsprechenden Folgen bei einer Schwangerschaft.
Und noch etwas ist sehr wichtig zu wissen:
Was die genetischen Schäden angeht und die Krebshäufigkeit usw., das
sind alles Folgen von NIEDRIGSTRAHLUNG, und das ist etwas anderes als
die Strahlenkrankheit der Liquidatoren. Etwas, das permanent von den
Verantwortlichen geleugnet wird.
Die Schädigung der Organe durch
inkorporierte künstliche Radionuklide, daran sind die kurzwelligen
Strahlen schuld. Bei Zellschädigung durch Radioaktivität hat die Zelle
vier Möglichkeiten. 1.: Die Zelle stirbt sofort ab. 2.: Die Funktion der
Zelle wird zerstört. 3.: Die Zelle entartet und es entwickelt sich
Krebs. 4.: Die Zelle kann sich reparieren. Das können aber nur
erwachsene Zellen. Embryonen haben gar keine Reparaturmechanismen, auch
Kinderzellen können das nicht. Sie sind aufs Wachsen und Teilen aus und
erst allmählich kriegen sie ihren Reparaturmechanismus. Und deshalb sind
Kinder auch so besonders gefährdet. Und aus diesen Gründen hätten alle
Schwangeren und Kinder sofort aus Fukushima weggebracht werden müssen!
Die Atomwirtschaft, das ist noch mal eine
Dimension, die wir gar nicht einschätzen können, weil so viele
wirtschaftliche Interessen, so viel Geld dahinter stecken. Was wir aber
einschätzen können, ist, dass sie und ihre Lobbyisten - zu denen auch
die Politik und die einschlägigen Organisationen gehören - absolut
zynisch sind und entsprechend agieren. Das fängt schon an mit den
Grenzwerten. Selbst in der Ukraine und in Weißrussland gelten niedrigere
Grenzwerte als bei uns.
Es gibt einfach keine verbindliche
unabhängige Instanz auf der Welt. Die WHO hat nur EINEN EINZIGEN
Menschen, der sich mit Strahlung beschäftigt! Aber sie hat ja ohnehin
nichts zu sagen. In Strahlen-Angelegenheiten hat sie einen absoluten
Maulkorb. Seit dem Vertrag von 1957 ist sie der IAEO (International
Atomic Energy Agency) unterstellt, und die unterdrückt jede Meldung über
die reale Strahlengefahr. Wir müssen das anprangern, diese
Unterstellung der WHO unter die IAEO, diesen Knebelvertrag. Der IPPNW
fordert eine Kündigung dieses Abkommens! Vielleicht kann die WHO dann
endlich dem Artikel eins ihrer Verfassung gerecht werden: allen Völkern
zur Erreichung des bestmöglichen Gesundheitszustandes zu verhelfen."
Der Foodwatch-Report des IPPNW (August 2011,
deutsche Sektion), formuliert unmissverständlich: Die Festsetzung von
Grenzwerten ist letztlich "eine Entscheidung über die tolerierte Zahl
von Todesfällen".
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