Atomare Denkverbote

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26.07.07 - von Martin Kölling

Ich weiß nicht, wovor ich mehr Angst haben soll: Vor Atomkraftwerken, die von Erdbeben bedroht werden, für die sie ganz offensichtlich nicht ausgelegt sind, wie das größte Atomkraftwerk der Welt in Kashiwazaki 220 Kilometer nördlich von Tokio, nahe dem am 16. Juli die Erde bebte? Oder vor einer Gesellschaft, die nicht wenigstens die Gefahren der Atomkraft diskutieren will?

In Japan hat bis zum heutigen Tag kein großes Medium das Wort GAU erwähnt, geschweige denn Szenarien ausgemalt, was beim Ernstfall passiert wäre. Die ganze Nation scheint sich um die harten Fragen herumzudrücken. Doch die müssten nun endlich gestellt werden: Wie nahe schrammten wir da eigentlich am zweiten Tschernobyl vorbei? Ist das japanische Atomprogramm angesichts der Erdbebengefahren und der unzureichenden Erdbebenrichtlinien tragbar? Müssen die restlichen Reaktoren abgeschaltet werden? Demonstrationen gegen die Atomkraft wie in Deutschland nach den vergleichsweise harmlosen Pannen der Vattenfall-Reaktoren gibt es hier zu Lande erst recht nicht.

Stattdessen verschwenden Zeitungen und Fernsehen ihren Druck- und Sendeplatz auf Nebenschauplätze wie den Transformatorenbrand, umgestürzte Fässer mit gering strahlendem Atommüll oder kleine Mengen entwichener Radioaktivität. Oder sie bringen wie die weltgrößte Tageszeitung Yomiuri gleich neben dem Bericht der ersten Ortsbegehung des betroffenen AKWs einen Beitrag, wie viel schädliches Kohlendioxid nun wegen der Abschaltung der sieben Meiler in die Atmosphäre geblasen werden muss.

Noch entlarvender für das Denken der japanischen Nachrichtenmacher war die sonntägliche Wochenrückschau des Privat-Senders Nippon TV, die in ihrem Erdbebenbericht das AKW Kashiwazaki Karima mit keinem Bild und Wort würdigte. Stattdessen durfte sich Kraftwerksbetreibers Tepco im Werbeblock durch sein Begrünungsprogramm als mustergültiger Umweltengel präsentieren.

Für Hideyasu Ban von der Bürgerbewegung "Nukleares Informationzentrum" ist da schon ein Durchbruch, wenn Journalisten ganz allgemein und kreuzbrav die Frage stellen, wie erdbebensicher denn wohl die anderen japanischen Kernkraftwerke seien. "Ich bin überrascht, wie kritisch die Medien sich mit mit Nuklearpolitik der Regierung auseinandersetzen", freute Ban sich, dessen Organisation meines Erachtens die beste Informationsquelle über die Risiken und die Kritik an Japans Atomprogramm ist. Angesichts dieser Nicht-Informationspolitik hat es mich nur wenig gewundert, als eine japanische Bekannte mich fragte, ob das mit dem Erdbeben und dem Atomkraftwerk den wirklich "schlimm gewesen" sei.

Zwei Erklärungen habe ich mir für das Totschweigen der Beinahe-Katastrophe zurechtgelegt. Die erste ist die eher staatstragende Rolle der Medien, die ich kürzlich schon in meinem Blog-Beitrag über die japanische Medienblockade beim Mitmach-Internet beschrieb. Während in Deutschland die Medien atomare Pannen eher größer machen und die Machthabenden in Zweifel zu ziehen, sind Japans Journalisten darauf konditioniert, gesellschaftliche Unruhe (oder schlimmer noch: Panik) zu vermeiden.

Grundsätzliches Infragestellen der Regierungsstrategie, Ölimporte – koste es, was es wolle – durch Atomenergie zu ersetzen, fällt in die Kategorie Unruhe stiften. Zu explizite Hinweise auf einen möglichen GAU oder gar das Atomkraftwerk Hamaoka, das a) mitten in eine Klasse-8-Erdbebenzone gepflanzt wurde und b) im Falle eines GAUs und südwestlichen Winden den Großraum Tokio mit seinen 35 Millionen Menschen verstrahlen könnte, gelten ganz offensichtlich als potenziell Angst auslösend und damit moralisch noch verwerflicher als Regierungskritik. Warnende Stimmen wie die des Seismologen Katsuhiko Ishibashi von der Universität Kobe, der die neuen AKW-Erdbebenrichtlinien von 2006 als "völlig unzureichend" bezeichnet, werden daher allenfalls in den Tiefen der Bleiwüsten versteckt und nicht in Überschriften laut herausposaunt.

Zweitens akzeptieren viele Japaner die Nichtinformation, getreu dem Sprichwort: "Wenn es stinkt, muss ein Deckel drauf." Wenn wie in diesem Fall die atomare Suppe so sehr gärt, dass sich der Deckel hebt und eine Stinkblase entlässt, schnuppert man zwar kurz verwundert, von wo her denn etwas so übel riecht. Hat sich der Gestank allerdings fürs erste verzogen, wird die Gesellschaft wohl wieder zur Tagesordnung übergehen. Und wenn der Deckel mal richtig abfliegt, schaut das Land verdutzt drein.

Nun will ich beileibe nicht Deutschland über den grünen Klee loben. Aber immerhin hat die Anti-Atom-Lobby dafür gesorgt, dass den Kraftwerksbetreibern ein bisschen auf die Finger gesehen wird. Hier in Japan kann ein regelrechtes Kartell der Atomkraftfreunde in Politik, Bürokratie, Industrie und Medien folgenlos für das Atomprogramm schwerwiegende Unfälle und Vertuschungsskandale produzieren. Denn es gibt keine unabhängige Kontrolle. Das für die Atomaufsicht zuständige Ministerium für Wirtschaft, Handel und Industrie pusht gleichzeitig den Ausbau der Atomwirtschaft, die Stromkonzerne sind aufs Engste verbandelt mit dem Ministerium, generöse Spender in Politikerkassen und gewaltige Anzeigenkunden für Zeitungen und Fernsehen.

Egal, wie man der Atomkraft auch gegenüber steht: Der Klüngel ist gefährlich. Meine einzige Hoffnung: Das Kartell bekommt Risse. An der Basis der japanischen Gesellschaft wächst das Misstrauen gegen die Regierung und damit die Chance, dass die Kontrolle der Mächtigen und der Atomkraftbetreiber vielleicht irgendwann einmal etwas strenger wird. International erschüttert das Beben schon jetzt Atomprogramme. Indonesien überlegt so beispielsweise nach dem japanischen Erdbeben, den Plan für den Bau seines ersten AKWs vorerst einzufrieren, bis die Sicherheit des geplanten Reaktors gewährleistet ist. Das Land liegt wie Japan auf dem pazifischen Feuerring, der immer wieder die Erde beben und Vulkane ausbrechen lässt.

Über den Autor

Martin Kölling

Martin Kölling ist ein Sinologe in Tokio, der in Asien sein Faible für Technik austoben darf. Der einzige Fehler des hektischen Standorts: Wegen des ständigen Trommelfeuers an digitalen Neuheiten kommt er nicht oft dazu, die Tage gemütlich analog mit einem Buch ausklingen zu lassen.

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