"Ihr Pass mag deutsch sein, Ihr Blut ist indisch!"

Бичсэн Hasnain Kazim
Эх сурвалж Spiegel online www.spiegelonline.de
2009.10.12 06:34

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Was bestimmt, wohin man gehört: der Geburtsort oder die Abstammung? SPIEGEL-ONLINE-Südasienkorrespondent Hasnain Kazim, selbst ein Einwandererkind, berichtet über den schwierigen Spagat zwischen Altländer Zitronenkuchen und indischem Nationalstolz.

Szene 1:

Ich reise durch Indien und trage meinen alten Shalwar Kameez, ein knielanges Hemd und eine weite Hose. Mir fällt auf, dass ich nicht auffalle. Niemand starrt mich an, niemand achtet auf meine Haut- und Haarfarbe, ich bin wie alle andere.

Small Talk im Taxi in Neu-Delhi. Ich erzähle dem Fahrer, wie sehr mir die Veränderungen in der Stadt bewusst werden: neue Geschäfte, saubere Straßen, der fröhlich-optimistische Blick der Menschen in die Zukunft. Er fragt mich: "Sir, woher kommen Sie?"

"Aus Deutschland."

"Deutschland?"

"Ja, meine Familie kommt zwar ursprünglich aus Indien, aber ich wurde in Deutschland geboren."

Er mustert mich aufmerksam im Rückspiegel seines klapprigen Ambassadors, während er mit unvermindertem Tempo über die holprige Straße brettert.

"Aber Sie sind doch kein Deutscher!"

Er mustert mich weiter.

"Na ja, ich habe einen deutschen Pass, keinen indischen", sage ich. "Also bin ich Deutscher. Oder wie sehen Sie das?"

Wieder betrachtet er mich im Rückspiegel, diesmal mit einem Blick, der mir bedeutet, ich hätte gerade die dümmste Aussage meines Lebens gemacht. Er wackelt abwägend mit dem Kopf.

"Sir, Ihr Pass mag deutsch sein, aber Ihr Blut ist indisch. Das ist, was zählt!" Als er das sagt, hält er sich die rechte Hand an sein Herz. "Sie fühlen sich doch nicht als Deutscher, oder? Ihre Identität ist indisch, nicht wahr?"

Ich lächle ihn im Rückspiegel an und sage nichts. Ich weiß die Antwort in diesem Moment selbst nicht.


Einige Tage später fahre ich zum Taj Mahal nach Agra. Ich kaufe eine Eintrittskarte für Inder, sie kostet 20 Rupien. Ausländer müssen 800 Rupien zahlen.

An der Sicherheitskontrolle am Eingang durchsucht ein Mann in Uniform meine Kameratasche und fischt meinen Reisepass heraus. "Sie sind kein Inder", sagt er und zeigt auf meine Eintrittskarte. "Warum kaufen Sie dann ein Ticket für Inder? Gehen Sie bitte zurück und kaufen Sie eins für Ausländer."

In diesem Moment fällt mir der Taxifahrer aus Neu-Delhi ein. Ich gucke den Uniformierten an, als hätte er den dümmsten Satz seines Lebens gesagt. "Hören Sie, mein Pass mag deutsch sein, aber mein Blut ist indisch. Das ist, was zählt, oder?" Als ich das sage, halte ich mir die rechte Hand ans Herz.

Der Uniformierte lächelt und wackelt zustimmend mit dem Kopf.

"Wie wahr, wie wahr!" sagt er. Er klopft mir freundschaftlich auf die Schulter. "Na, gehen Sie schon rein."

Szene 2:

Ich besuche Verwandte in Karatschi, Pakistan. Sie sagen zu mir: "Willkommen in deinem Zuhause!"

Die beiden riesigen Häuser meiner Großeltern, in denen ich in meiner Kindheit viel Zeit verbracht habe, sind verkauft. Fremde Menschen wohnen jetzt darin. Ich spüre einen Stich, weil ich weiß, dass ich nicht einfach hineingehen und mich umschauen kann. Jene Tanten und Onkel, die in Karatschi geblieben und nicht nach England, in die USA oder nach Kanada ausgewandert sind, haben sich neue, schickere Häuser in angesagten Stadtteilen gekauft - und die wechseln auch in Karatschi alle paar Jahre. Eine Tante lebt direkt neben der Politikerfamilie Bhutto. An der Straßenecke vor ihrem Haus stehen immer Sicherheitsleute. Nach zwei, drei Tagen kennen mich die Polizisten. Wenn ich an ihnen vorbeispaziere, nicken sie mir freundlich zu.

In den neuen Häusern meiner Verwandten fühle ich mich schnell wohl. Mein Zuhause.

Der Muezzin ruft zum Gebet. Der Gesang des Vorbeters hat eine beruhigende Wirkung, wie das Läuten von Kirchenglocken. Ich fühle mich dieser Religion verbunden, kenne viele Muslime in Pakistan und Indien, deren Ansichten und Werte sich kaum von denen in westlichen Gesellschaften unterscheiden. Islam ist eben nicht nur so, wie er häufig außerhalb der islamischen Welt dargestellt wird - als bringe er nur Intoleranz und Terrorismus hervor. Es ist die Religion meiner Verwandten, meiner Vorfahren. Dieses Erbe habe ich zu tragen.

Ich habe mich taufen lassen, weil meine Eltern das so entschieden haben. Im Frühjahr 1988 ließ ich mich konfirmieren, weil alle meine Freunde es taten und weil ein befreundeter Pastor anrief und meine Eltern fragte, wo denn meine Anmeldung zum Konfirmandenunterricht bliebe. Klar ging es um die Feier, um Geschenke, aber vor allem darum, dass ich so sein wollte wie alle anderen. Ich bin mir nicht sicher, ob ich mich heute wieder so entscheiden würde. Wahrscheinlich nicht. Ich bin kein religiöser Mensch. Müsste ich meine Religion angeben, würde ich sagen: Schätzungsweise 60 Prozent evangelischer Christ, 40 Prozent schiitischer Muslim. Vielleicht sogar 70 zu 30.

Ich habe mich für konfessionslos entschieden. Das macht die Sache einfacher.

Für westliche Verhältnisse sind meine pakistanischen und indischen Verwandten sehr religiös. Die meisten von ihnen lesen regelmäßig im Koran und sprechen das Glaubensbekenntnis, sie beten mehrmals täglich, spenden den Armen, halten den Fastenmonat ein und pilgern einmal im Leben nach Mekka. Für südasiatische Verhältnisse ist meine Familie dagegen nicht sonderlich religiös. Im Gegensatz zu manchen strenggläubigen Menschen dort kreist ihr Leben nicht nur um die Religion. Rede- und Pressefreiheit sind ihnen wichtig. Mohammed-Karikaturen mögen sie trotzdem nicht.

Szene 3:

Spaziergang durch das Dorf Hollern-Twielenfleth, im Alten Land, vor den Toren Hamburgs. Die Kirschen sind reif, Obstbauern fahren mit ihren Traktoren durch das Dorf. Jeder nickt mir freundlich zu. Alle paar Häuser treffe ich alte Bekannte.

Ich besuche Gisela Laurich, unsere frühere Nachbarin, die vor Jahren Unterschriften für uns gesammelt und Petitionen geschrieben hat, damit wir als Einwanderer in Deutschland bleiben durften. Wir sprechen über alte Zeiten.

"Mensch, was haben wir durchgemacht", sagt sie.

Sie sagt "wir".

Ich gehe an unserem alten Haus vorbei. Es sieht noch genauso aus wie vor 30 Jahren: dunkelrote Ziegelsteine, schwarzes Dach, der Weg zur Eingangstür aus Waschbetonplatten. Der riesige Garten mit den Kirschbäumen ist etwas kleiner geworden: Dort stehen jetzt neue Einfamilienhäuser. Die Bevölkerung von Hollern-Twielenfleth wächst offensichtlich.

Ich freue mich, dass unsere Nachbarin Otti nach wie vor in diesem Haus lebt. Durch sie habe ich das Gefühl, dass da noch etwas von uns ist in diesem Haus.

"Komm rein, mein Junge", sagt sie, wenn ich sie besuche. Dann serviert sie den Zitronenkuchen, den ich immer bei ihr bekomme. Ein Stück Kindheit.

Ich bin glücklich, dass meine Eltern uns hier haben aufwachsen lassen, mitten in der Natur, nahe am Wasser. Wenn ich sie in unserer norddeutschen Heimat besuche, fahre ich gern nach Hollern-Twielenfleth. Ich streife durch das Dorf, spaziere die Vorderstraße entlang, unterhalte mich mit den Menschen, die hier leben. Dann verstehe ich, weshalb meine Eltern nicht mehr weg wollen aus diesem Teil Deutschlands.

Epilog:

Indische Identität, pakistanisches Zuhause, integriert in Deutschland - manchmal zerren viele Kräfte an mir. Und egal, wo ich bin, immer vermisse ich etwas. Meine Eltern sind an ihrem Ziel angekommen. Aber wohin gehöre ich?

Nach Deutschland, sicher.

Aber mir kommen wieder Zweifel, wenn ein Fremder zu mir sagt: "Sie sprechen aber gut Deutsch!" Oder wenn jemand versichert, wie toll es doch sei, dass ich als Einwandererkind es so weit gebracht habe in meinem Leben. Und mich spüren lässt, eigentlich müsste ich dankbar dafür sein, Pakistan und Indien entkommen zu sein. Als wäre das die Hölle.

Dann habe ich das Gefühl: Ich kann mich noch so sehr anstrengen, mich anpassen, die Sprache beherrschen, gute Leistungen bringen - so ganz gehöre ich nicht hierher, sobald ich mich aus dem Kreis meiner Freunde und Bekannten und Kollegen hinausbewege. Obwohl ich in Deutschland geboren und aufgewachsen bin, gehe ich immer noch eher in Indien als Inder, in Pakistan als Pakistaner und wahrscheinlich in Amerika als Amerikaner durch als in Deutschland als Deutscher.

Und doch mag ich dieses Land. Es war ein Zufall, der meine Eltern hierher geführt hat: eine Anzeige einer deutschen Reederei in einer pakistanischen Tageszeitung, auf die sich mein Vater als Seemann beworben hat. Hier zu bleiben, hier zu leben, war dagegen ihre bewusste Entscheidung. Auch das ist mein Erbe.

Vielleicht hat der Taxifahrer aus Neu-Delhi recht: Der Pass ist völlig egal. Zuhause ist, wo das Herz gerade ist. Mein Herz schlägt in zwei Welten, in drei Heimaten.

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